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27. 2. 1891
lf. Nr.
Aussteller
F. S.
Empfänger
Johanna A.
Liebe Johanna!
Klage mich nur ja nicht der Gleichgiltigkeit an, wenn ich Dir so lange Antwort auf Deinen lie-ben Brief schuldig bleibe. Wenn ich die Hindernisse der Reihe nach aufzaehlen wollte, so koennte ich diesen Bogen damit fuellen, aber es waere auch der Zweck des Schreibens verfehlt. Die anhaltende Kaelte dieses Winters ist die Hauptursache, denn Fr. Doktor B. erkrankte darueber, weil unsere Woh-nung unter allen Kalten die Kaelteste ist, welche so lange sie steht, von der Sonne nur ein hoechst fluechtiges Hohnlaecheln erhascht hat. Wir stehen im II. Stock ueber allen gegenueberstehenden Haeusern, ueber deren Daecher ein weisses Linnen gebreitet ist, u. nehmen nur ein ganz kleines Stueckchen vom Oberhauserberge wahr, der laengs der Donau der Stadt eine schirmende Krone aufsetzt. Wir sehen wohl die Sonne, aber nur beim Erwachen, u. wenn sie uns einen guten Morgen geboten hat, eilt sie von dannen. Den ganzen Winter hindurch sieht sie uns nicht u. entzieht uns Licht und Waerme. Es ist diess ein langweiliges Kapitel, aber wem es nicht Dichtung ist, der begreift, dass der Gedankenstrom nicht regelmaessig zirkulieren kann u. endlich gefriert u. erst auftaut, wenn die Nebel der Sonne einen Durchblick gestatten.
Ich habe in der langen Pause viel und oft Deiner gedacht, weil ich aus Deinem Schreiben ersehen, dass auch in Deiner Familie der gefuerchtetste Gast „Krankheit“ oft einkehrt u. gerne bei Euch verweilt. Ihr seid doch alle noch im kraeftigen ruestigen Alter u. noch nicht nah dem Scheidewege, welchen zu waehlen uns keine Wahl bleibt, u. doch muesst Ihr der Gesundheit so schwere Opfer brin-gen. Recht froh bin ich, liebe Johanna, dass Du einen jungen, lieben Gefaehrten um Dich hast, mit welchem du stundenlang wieder zurueckgehen kannst in die schoene Zeit der Jugend, die noch so unver-kuemmert genossen werden kann in der Erinnerung, wenn wir unser Herz offen erhalten fuer alles das, was kommt, u. nicht ermuedet die Waffen aus der Hand legen, mit welchen wir in der Vergan-genheit gekaempft u. gestritten, um schrittweise ein Fleckchen zu erobern, das irrthuemlicher Weise Frie-den u. Ruhe genannt wird. Die Station der Ruhe erreichen wir hier nicht u. wenn wir sie in Sicht glauben, heisst es aussteigen, um unsere Billete in’s Jenseits zu loesen.
Es ist interessant, um einen jungen Studierenden zu sein u. ihn in seinem Fortschreiten zu be-obachten. Ich bin jetzt beinahe 18 Jahre hier und waehrend dieser Zeit sind 2 junge Bernhuber an mir emporgewachsen. Der Vater starb, als der aelteste an der Universitaet war, jetzt ist er verheirathet und schon mit zwei Kinderchen beschenkt. Der Juengere, damals beinahe noch ein „sansculotte“, ist das letzte Jahr auf der Universitaet und wird sich den Doktortitel erwerben. Beide sind Mediziner und der Trost ihrer Mutter.
Du wirst viel Anregung und geistige Beschaeftigung mit Deinem Neffen haben u. er wird Leben in Deinen Kreis bringen. Man waechst mit ihnen u. schuetzt sich so lange es moeglich ist vor dem frue-hen Alter. Passende Lektuere u. angemessener Umgang schuetzen vor dem Kahlwerden u. dem peinlich pedantischen Festhalten an dem, was war, u. dem souveraenen Uebersehen alles dessen, was die Ge-genwart schafft und weckt.
Dein Bild, liebe Johanna, musste ich erst studieren und mich hineinleben. Ich haette Dich im Au-genblick nicht erkannt, aber im tiefen Hineindenken entdeckte ich schon bekanne Punkte, welche nach u. nach lebendig wurden u. mich vertaut anlaechelten. Dein tieferes Sein und Wesen bildete sich ja erst aus, als ich schon ferne von Dir war u. das Leben schon anfing, Schatten auf deine Wege zu wer-fen. Der Tod Deiner Eltern war die erste Station des Kreuzweges, von da an musstest Du mit Deinen lieben Geschwistern allein fortschreiten u. Dich stark machen, um ihnen eine Stuetze zu sein.
Es ist ein erhebendes Gefuehl, Eltern gehabt zu haben, deren Andenken uns eine Leuchte durchs Leben ist. Du hast, liebe Johanna, das Glueck gehabt, glaenzende Vorbilder in Vater und Mutter ehren zu duerfen, die ihren milden Schimmer ueber ihre Umgebung verbreiteten. Du hast der Natur den grossen Preis gezahlt, sie zu verlieren. Aber ihr Andenken stirbt nicht und lebt segensreich in Allen fort, welche das Glueck gehabt haben, sie zu kennen. Ich habe sie nie vergessen und habe ihren wohlthuenden Einfluss noch nie entbehrt, weil er edler hoeherer Natur war. Gleichen Schrittes sind Vater und Mutter ihren erst ebenen, dann rauhen Pfad dahin gegangen, in Ausuebung ihrer stillen Tugenden, unberuehrt von Menschgunst od. Tadel bewahrten sie sich das Ideal ihrer stillen Groesse in unscheinbarer Einfachheit u. Anspruchslosigkeit.Sie loesten auch die ruehrende Aufgabe von „Leiden u. Schweigen“. Ihre Kinder muessen nun Zeugniss fuer sie geben durch getreues Ausharren im Kampfe und kluge Benuetzung der schoenen geistigen Mittel, welche sie ihnen zurueck liessen.
Dein liebes Bild ruft mir wirklich Tante Mimi etwas zurueck, aber nur wenig, ich finde mich leichter in die Johanna von ehemals als in sie hinein. Ich sage Deinem Hn. Neffen herzlichen Dank, dass er Dich mir abgetreten hat u. mir eine grosse Freude gemacht.
Es wundert mich sehr, dass Du, liebe Johanna, den Unterschied der Jahre zwischen Dir u. So-phie schon so sehr wahrnimmst, weil ich beinahe lauter junge Freundinnen habe. Die alten Freundin-nen und Freunde in meiner Vaterstadt haben mich waehrend meiner langen Abwesenheit beinahe alle vergessen. Andere sind verknoechert und im Patriarchenstolz versumpft, weil sie nie aus der heimath-lichen Scholle heraus zu gehen bemuehten u. souverain auf mich herabsehen; aber die Jugend zieht mich an u. sie schenkt mir gar viel schoene Stunden. Freilich ist stete Wandelung, denn jede saison heirathet Eine aus dem Vereine u. geht fuer mich verloren.
Indessen geht das Alter bei mir sein rasches Tempo dahin, denn meine Beine wollen mich nicht mehr allein fuehren u. halten mich dazu noch den ganzen Winter an’s Zimmer gefesselt, weil sie keine Kaelte ertragen koennen. Die geistige Frische, welche Du so sehr ruehmst u. ueberschaetzest, ist sehr in Abnahme begriffen, weil sie der Mangel des Gedaechtnisses lahmlegt.
Gruesse mir doch Deine lieben Schwestern recht herzlich sowie Deinen Neffen, fuer dessen Theil-nahme ich sehr verbunden bin. Das neue Jahr moege Ihnen u. Dir alle Wuensche erfuellen, die Ihr im Herzen tragt.
Ich schreibe schon mehre Wochen an diesem Briefe, welchen ich anfing, als das Jahr kaum 2 Wochen alt war. Ich fuerchte, es hat nichts Gutes im Sinn, weil die Influenza schon wieder ueberall spuckt. Fr. Dr. Bernhuber hat eine ungeheure Verwandtschaft, aus welcher der Tod seit einem Jahr bestaendig ein Opfer sucht, so dass die Arme gar nicht mehr aus den Trauerkleidern kommt. Jetzt sitzen wir leider hinter Schloss u. Riegel u. leben vom Almosen derer die da kommen, uns Gesellschaft zu leisten.
Du wirst, liebe Johanna, gute Lektuere haben, denn Dein Verwandten- u. Bekanntenkreis wird ein grosser sein, der Dich hierin nicht darben lassen wird. Die Welt ist gross u. schoen, u. schoener noch ist, dass die Schoepfung es nicht an Dichtern fehlen laesst, welche sie u. ihre Bewohner genugsam beschreiben. Dein seliger Hr. Papa mit seinem reichen tiefen Schacht konnte das so schoen lesen u. mitempfinden, was geschrieben war, u. es liess ohne es zu wollen entdecken, dass seine eigener Schacht unergruendlich sei u. er so viele Reichthuemer verberge.
Ich bin noch sehr oft beschaeftigt, Reminiszenzen von Mauerkirchen zu feiern. Dabei faellt mir immer Hr. v. Haydn ein, der uns den Aufenthalt dort so sehr verschoenerte. Die Promenaden in der urwuechsigen Gegend, die wir nur deswegen nicht unsicher machten, weil sich ohnediess kein menschlicher Fuss dahin verirrte, diese Kluefte u. Abgruende, die wir durchtasten mussten, dem gebieten-den Fuehrer blindlings folgend, der unermuedlich ein salto mortale anstrebte u. am Ende stolz auf seine Schaar, bestehend aus 4 oder 5 Schwaechlingen, herabsah, deren Haeupter zaehlte u. sich endlich im Schrecken von uns abwandte, als er unsere Uniform erblickte, zerrissen und beschmutzt, ganz un-geeignet fuer eine ungefaehrdete Rueckkehr nach Hause. Du warst wohl immer gegenwaertig, liebe Jo-hanna, als die geschickteste Turnerin, aber Du wirst nichts mehr davon wissen. Nun interessiert mich, von Hn. v. Haydn zu erfahren, der auch ein so genial angelegter Mann war!
Wie sehr bedaure ich Deine Schwester Sofie, bei ihr setzt sich jede Krankheit am laengsten fest. Habt Ihr am Ende auch eine noerdliche Wohnung, wo die Sonne nichts an den Tag bringt? Wir, die wir mit Wasser umguertet sind, wir sind es gewohnt, der Gicht u. ihrem Anhang unfreiwillig zu huldigen, aber Ihr habt die Donau allein u. sollt doch mehr verschont sein von dergleichen Neegelei-en[?].
Hast Du Fritz Reuter nicht gelesen? Die ersten Seiten bieten etwas Schwierigkeit ihn zu lesen, aber bald fesselt die primitive formlose Einfachheit, welche stets reiche Poesie durchblitzt, beinahe im kindlich unschuldigen Gewande auftretend. Es mahnt mich an „Vicar of Wakefield“, aber der Witz in „Reuter“ ist sprudelnder.
Ich hoffe, liebe Johanna, dass Du Dich jetzt besser befindest, denn der Fruehling wird das Eis brechen, das der Winter um Herz u. Gemueth aufbaut. Wenn die Schneedecke von dem Bette unserer guten Mutter Natur geschmolzen, erstehen neue Wunder, womit sie uns ueberraschen und begluecken will. Die Sonne ruft nacheinander ihre Kinder hervor, welche sie vor dem rauhen Angriff des Win-ters schuetzte, sie nun aber grossziehen u. in die Welt einfuehren hilft, wo sie nicht mehr schlafen, sondern arbeiten muessen zu Gottes Ehre! Wirst Du wieder Landaufenthalt nehmen in dem mir be-kannten Bergham? Zu unsrer Idylle hat dort nichts gefehlt, Deine lieben Eltern haben es weniger schoen gehabt.
Linz hat eine bezaubernd schoene Gegend, grossartiger wie hier; aber Passau hat auch eine reizend romantische Gegend, welche ich noch vor 5 Jahren genau inspizierte. Jetzt wenn ich unsere Bruecken besuche, schicke ich meine Seufzer ab- u. auf-, links- u. rechtswaerts. Die Erinnerung malt nothduerfti-ge Skizzen, die Phantasie schweift eine Weile wie ein fluegelloser Schmetterling von Punkt zu Punkt u. bricht bald zusammen.
Ich erwarte, dass Du mir bald von Deinem Befinden schreibst u. dem Deiner lieben Schwestern u. Deines Hn. Neffen! Macht sich in oesterreich auch die „Kneip’sche“ Methode bald sesshaft? Ich huldige ihr nicht.
Wenn Fraeulein „Prohaska“, welche mir Deine Adresse zu Wege brachte, im Laufe des Sommers Passau besucht, werde ich sie Dir zuschicken, im Falle Du Dich in Linz befindest. Wir kennen uns zwar sehr wenig, nur en passant durch Fr. Dr. Bernhuber, deren weitlaeufige Verwandte sie ist. Sie war nur als Kind in Passau u. lebt jetzt haeufig in Linz bei ihrer Tante.
Sehr interessant waere es mir, die Photographien Deiner Schutzbefohlenen zu haben, als da sind Schwestern u. Neffe. Wenn ich auch Frl. Sophie nie gesehen habe, so ist sie mir doch so nah, als haette ich mit ihr auch zusammen gelebt u. alles, selbst Elternliebe, geteilt. Ich habe eine Photografie der seligen Mama, in welcher Frl. Sophie in ihren Schoss sich lehnt, aber klein wie eine grosse Pup-pe. Frl. Marie habe ich recht gut in Erinnerung, aber wir wuerden uns alle nicht mehr erkennen. Am besten ist mir Frau Louise gegenwaertig, von welcher ich eine Photografie aus Salzburg habe, wo-rauf sie mit ihren Zoeglingen abgebildet ist.
Jetzt ist es Zeit, dass ich den Brief schliesse, denn wenn er noch ein paar Wochen aelter wird, koenn-te er gar ungeniessbar werden. Gruss und Kuss Deinen Angehoerigen, liebe Johanna, u. so viel Lust u. Liebe zum Leben als der Mensch bedarf, um seinem Schoepfer Lob und Dank darzubringen.
Deine getreue F. S.
Passau den 27. Febr. 1891