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(2017) Einmal mehr sitze ich in meinem Lehnstuhl am Fenster, blicke auf das gegenüberliegende Schulgebäude, die am bewölkten Vormittag schwach erleuchteten, gefüllten Klassen und das hinter der Schule aufragende Dachgeschoß mit dem futuristischen Antennenwald, den wuchernden Zeichen moderner und allgegenwärtiger Kommunikation, und bemerke, dass ich alt werde, dass die Zeit des Pläneschmiedens und Verwirklichens vorbei ist.

„Von allem, was zwischen Menschen erfahren, kommuniziert und produziert wird, ist es stets nur ein schwindend kleiner Anteil, der tatsächlich von einem gelebten Leben übrigbleibt und weitergereicht wird.“ Mir wurde das erstmals bewusst nach dem Tod meines Onkels Eberhard: eine führende Persönlichkeit im oberösterreichischen Klerus, befreundet mit zahlreichen Prominenten, zentrale Person unserer Großfamilie, viel gerühmt und oft geehrt. Er hatte mich zu seinem Universalerben eingesetzt, hatte sich in den letzten Jahren oft mit seinen Erinnerungen, seinen Tagebüchern, seinen Begräbnisfeierlichkeiten und seinem Nachruf befasst. Doch was an materiellem Erbe für die Familie blieb, waren eine geringe Barschaft, wenige Fotos, ein paar alte Möbel (darunter der „Papstsessel“, in dem Johannes Paul II, bei seinem Besuch in Lorch ein Stündchen geruht hatte) und ein paar Dutzend unpersönlicher Bücher; die Nachlässe im Diözesan- und im Landesarchiv sind familiengeschichtlich ohne Belang. Ist es unvermeidlich, dass von einer Person so wenig übrigbleibt?

Der Tod meines Vaters hatte vorerst wenig materielle Folgen, denn er blieb im Haus im Neubruch präsent: Möbel, Utensilien, Garten, alles war noch von seiner Gegenwart getränkt. Ähnlich nach dem Tod der Mutter: wie in Schockstarre erhielten wir den materiellen status quo im Neubruch noch eine Weile aufrecht. Erst nach einem Jahr begann das Ausräumen, jetzt umso radikaler. Und ehe ich es richtig begriff, war fast die ganze materielle Hinterlassenschaft entsorgt. Tausende Bücher, Geschirr, dann die Möbel, die Bilder. Ich barg allzu eilig, wie es neben der Berufstätigkeit ging, die familiengeschichtlichen und autobiografischen Sammlungen des Vaters, die er selbst noch im hoffnungslosen Versuch, gegen seine Erkrankung anzukämpfen, wieder und wieder vergeblich neu zu ordnen versucht hatte. Und plötzlich war außer dem „Familienarchiv“ fast nichts mehr da – außer den Erinnerungen.

Da wurde mir zum ersten Mal der Mechanismus des biografischen Vergessens bewusst: solange die Erinnerung an einen verstorbenen Menschen frisch ist, hat seine materielle Hinterlassenschaft wenig Bedeutung und beschränkt sich auf „Erinnerungsstücke“. Sobald aber mit der nächsten Generation die Erinnerung schwindet, verlieren auch die Erinnerungsstücke ihre Bedeutung – und übrig bleibt nichts. Dieser Vorgang ist so selbstverständlich, dass wir ihn als ebenso unabänderlich wie den Tod selbst wahr- und hinnehmen.

Auf gesellschaftlicher und staatlicher Ebene sollen Archive dafür sorgen, dass Erinnernswertes erhalten bleibt, und Historiker arbeiten daran, Vergessenes aus (meist schriftlichen) Relikten zu rekonstruieren und in die kollektive Erinnerung wieder einzubringen – ein Vorgang, der sich auf den öffentlichen Bereich im weiten Sinn beschränkt: auch Mikrohistorie ‚zählt‘ nur im Rahmen größerer Zusammenhänge. Die subjektive Familiengeschichte als Erinnerung an die eigenen Eltern und Vorfahren, unabhängig von ihrer gesellschaftlichen und historischen Bedeutung und Stellung, hat darin - von Exemplarischem abgesehen – ebenso wenig Platz wie die eigene Biografie und Umgebung.

Deshalb gibt es diese Seite "ich".

Aleida Assmann, Formen des Vergessens, 2. Auflage Wallstein 2016, S. 31.

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