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2. 10. 1890
lf. Nr.
Aussteller
Franziska Strobl
Empfänger
Johanna A.
(Meine Adresse: Frl. Franziska Strobl, Privatière bei Frau Anna Brennhuber, Doktorswitwe in der Hl. Geiststrasse No. 369 II. Stock)
Liebe Johanna!
Viele Jahre sind zwar eilig, aber nicht im Traume dahingeschwunden, seit ich von dir schied. Nachdem ich vor ungefaehr 16 Jahren meinen Ruhesitz hier eingenommen, fahndete ich bestaendig nach Nachrichten von Linz, vom Hause „Anthoine“; wie schwer und unergiebig meine Forschungen waren, beweist, dass ich erst nach so langer Zeit eine Spur von Dir und Deinen lieben Schwestern gefunden. Es draengt mich nun, von Dir ein Lebenszeichen zu gewinnen, da Du in meinem Ge-daechtniss u. in meinem Herzen getreu fortlebst und die Zahl der Jahre, die dazwischen gross geworden, keinen Einfluss auf die Erinnerung geuebt haben.
Zu meiner grossen Freude erfuhr ich, dass das schwesterliche Kleeblatt sich in Bergham niederge-lassen, wo ich Euch aufsuchen kann u. mich im Geiste mit Euch unterhalten. Schreibe mir doch recht bald, liebe Johanna, u. verkuerze die endlos lange Zeit mit einer getreuen Erzaehlung der Ereignisse u. der Verhaeltnisse, welche Euch nach Bergham gefuehrt haben. Der Tod Emiliens wurde mir auch gemeldet u. hat mich sehr erschuettert. Berichte mir doch auch von ihr u. ihren Kindern. Ich brauche Dir wohl nicht zu versichern, wie sehr mich alles interessiert, was Deine Familie u. Deine Verwand-ten beruehrt.
Ich selbst habe mich in der Zwischenzeit zur Greisin herangebildet, auf deren Antlitz die Zeit ihren aetzenden Griffel fleissig geuebt hat. Sie hat eine schwere Hand und zeichnet od. graebt vielmehr tiefe Furchen. Wenn ich vom Firmungstag an zaehle, so bist du auch in Deiner koerperlichen und seelischen Entwicklung dort angelangt, wo das Leben uns viele Raethsel geloest hat u. einen freien Blick in unser Inneres offenlaesst, das wir selten zu unserer Freude enthuellt sehen. Das Vertrauen zu Gott dem Vater hilft indessen die Schwierigkeiten u. Irrthuemer bekaempfen u. uns seines Schutzes bewusst werden.
Da ich doch nicht gewiss weiss, ob Dich mein Brief treffe, so will ich nicht weiter in meiner Rede fortfahren. Gott sei mit Dir, liebe Johanna, u. Deinen Schwestern!
Deine getreue Franziska Strobl
Passau, den 2. Oktober 1890